Von OStD Harald Pröm:
1) Inwiefern sind Sie der Meinung, dass Mädchenschulen in der heutigen Zeit noch zeitgemäß sind? Besonders in Antbetracht der der dynamischen Veränderungen im Bereich Gender und der sich entwickelnden Gesellschaft könnte man zu dem Entschluss kommen, diese Schulform sei aus der Zeit gefallen – Wie sehen sie das?
In Anbetracht einer sich immer weiter ausdifferenzierenden Gesellschaft ist eine Mädchenschule durchaus zeitgemäß. Eine Mädchenschule ist ein sicherer Ort für junge Frauen, die gerne in einer störungsfreien Umgebung lernen und sich entwickeln wollen. Die geschlechtliche Identitätsbildung findet statt – dazu werden männliche Mitschüler in der Klasse nicht benötigt.
Wir nehmen wahr, dass besonders Mädchen, die sich in ihrer femininen Rolle unwohl fühlen, mit burschikoseren Identitäten experimentieren oder sich auf den Weg in eine andere Geschlechtsidentität machen, an einer Mädchenschule ein weitaus toleranteres und verständnisvolleres Umfeld vorfinden als das an einer koedukativen Schule zu erwarten wäre.
Eine staatliche Mädchenschule ist auch für junge Frauen mit Migrationshintergrund zeitgemäß. Die Integration von jungen Menschen mit Migrationsgeschichte erfolgt über den Bildungsweg. Wenn es eine Mädchenschule schafft, Mädchen mit einem anderen kulturellen Kontext an demokratische und liberale Werte heranzuführen, dann wird dadurch der Gesellschaft ein sehr wertvoller Dienst erwiesen, weil gebildete Mädchen Multiplikatorinnen für Freiheit und Emanzipation sind. Für solche Mädchen ist ein staatliches Mädchengymnasium ein attraktiver Einstieg in die höhere Schulausbildung.
2) Welche Besonderheiten und Vorteile sehen Sie in diesem Bildungskonzept?
Der Unterricht in einer reinen Mädchenklasse bietet den Vorteil, dass die effektive Lehr- und Lernzeit deutlich höher ist als an einer gemischten Schule. Das liegt daran, dass das Störungspotential in aller Regel von Jungen ausgeht und somit die Aufmerksamkeit der Lehrkraft gebunden ist. An einer Mädchenschule kann sich die Lehrkraft ohne Zeitverlust den Unterrichtsinhalten widmen. Wenn Mädchen unter sich sind, dann werden in der Klasse die Rollen, die sonst üblicherweise von Jungen besetzt sind, auch von Mädchen besetzt. Das gibt den Schülerinnen den Freiraum sich viel freier zu entfalten, sich etwas zuzutrauen und über sich hinauszuwachsen. Wir nennen dies „empowerment“ von jungen Frauen. Dadurch versetzen wir Schülerinnen im Laufe ihrer Gymnasialzeit in die Lage, selbstbewusst und selbstbestimmt ihr Leben in die Hand zu nehmen.
3) Wie beeinflussen Mädchenschulen die persönliche und schulische Entwicklung der Schülerinnen? Gibt es spezielle pädagogische Ansätze oder Programme, die auf die Bedürfnisse junger Mädchen zugeschnitten sind?
Wir sind am Elly-Heuss-Gymnasium MINT-freundliche Schule. Wir haben diese Auszeichnung gerade erst zum dritten Mal erneuert. Das bedeutet, dass an unserem Mädchengymnasium die naturwissenschaftlichen Fächer und Informatik einen hohen Stellenwert besitzen. Unsere Schülerinnen können, ohne von traditionellen Rollenklischees eingeengt zu werden, ihre mathematisch-naturwissenschaftlichen Neigungen ausleben. Dass das erfolgreich geschieht, zeigt sich gerade dadurch, dass wir jedes Jahr bei dem naturwissenschaftlichen Wettbewerb „Experimente antworten“ Gewinnerinnen nach München zur bayernweiten Preisverleihung schicken können. Unsere Schülerinnen entwickeln sich natürlich nicht zu Lernmaschinen, sondern zu jungen Frauen, die soziale, ökologische und interkulturelle Verantwortung übernehmen. Als einzige Weidener Schule konnten wir kürzlich sieben Schülerinnen vom Landgericht Weiden mit Urkunden für ihr Engagement als „Schulguards“ auszeichnen lassen. In Sachen Zivilcourage sind Mädchen oft mutiger als Schüler und setzen sich engagierter für die Gesellschaft ein.
4) Welche Herausforderungen sehen Sie in Bezug auf die Wahrnehmung von Mädchenschulen in der Gesellschaft? Wie gehen Sie mit möglichen Vorurteilen oder Stereotypen um?
Wenn Mädchenschulen als „Zickenbunker“ diffamiert werden, an denen man ein „Knödelabitur“ machen könne, dann zeigt allein schon dieses stereotype Vorurteil, dass die Gesellschaft, die sich an der Oberfläche so emanzipiert und modern zeigt, im Inneren tradierte Rollenmuster mitschleppt. Eine Mädchenschule ist der Ort, wo gerade diese Vorurteile keine Rolle spielen und sich Mädchen davon befreien können. Wenn zu uns Praktikant*innen, die sich auf den Lehrerberuf vorbereiten, kommen und schnuppern, dann ist die Aussage immer, dass wir eine Schule sind, in der die einzelne Schülerin mit ihrer individuellen Eigenart im Zentrum der pädagogischen Aufmerksamkeit steht und nicht ein anonymer Klassenverband. Das zeigt mir, dass unser Konzept stimmt.
5) Wie hat sich die Zahl ihrer Schülerinnen in den letzten Jahren entwickelt? Sollte es stetig weniger werden, denken sie darüber nach, ihre Schule auch für Jungen zu öffnen?
Die Zahl der Schülerinnen ist in den letzten 20 Jahren stetig gesunken, zuletzt aber wieder stark angestiegen. Diese langfristige Entwicklung hat sicher viele Gründe. Die Jahrgangskohorten sind kleiner geworden. Die Nachbarschulen boten ebenfalls attraktive Lernbedingungen. Dass das Konzept Mädchenschule nicht aus der Zeit gefallen ist, zeigt uns der allgemeine Trend von Mädchenschulen, die Bewerberinnen aus Kapazitätsgründen ablehnen müssen. Schulen sind dann erfolgreich und nachgefragt, wenn ihr Angebot stimmt. Deswegen modernisieren wir mit Hochdruck unser Elly-Heuss-Gymnasium. Die Klassenzimmer der 5. und 6. Jahrgangsstufe haben neue Schulmöbel erhalten, die ein kollaboratives Arbeiten erleichtern. Offene Lernlandschaften mit neuen Flurmöbeln erlauben es, Schülerinnen mit individuellen Arbeitsaufträgen in ein anderes Lernsetting zu entsenden. Der Unterricht der Zukunft ist weniger lehrerzentriert und berücksichtigt den individuellen Lernfortschritt der einzelnen Schülerinnen. Ein im Rahmen des Digital-Pakts-2 neu ausgestatteter Computerraum wird am 28.02.24 im Rahmen unserer Elly-Rallye eingeweiht werden. Mit dieser neuen Lernakzentuierung erwarten wir uns weiter steigende Schülerinnenzahlen. Im vergangenen Schuljahr konnten wir die Zahl der Neuanmeldungen von 38 auf 60 steigern.
Eine Öffnung der Schule für Jungen wird, auch wenn sie gelegentlich diskutiert wird, laut unseren Umfragen weder von den Schülerinnen noch von den Eltern gewünscht. Wie gesagt verstehen wir die Mädchenschule nicht als ein veraltetes Überbleibsel, sondern als ein Modell für die Zukunft.
6) Bei vielen Mädchenschulen gibt es das Phänomen, dass Schülerinnen oft schon in zweiter oder sogar dritter Generation auf die Schule kommen. Gibt es das bei ihnen auch?
Wir sind ein Gymnasium extra für Mädchen. Unsere Klientel setzt sich aus verschiedenen Gruppen zusammen. Natürlich sind da die Mädchen, deren Mütter und z. T. Großmütter schon das Elly besucht haben. Überall wo mir in Weiden erfolgreiche Frauen begegnen, höre ich: „Ich war auch am Elly!“ In diesen Aussagen schwingen viel Stolz und Freude über die eigene Schulzeit mit. Aber freilich sind wir auch ein Gymnasium für Mädchen, deren Eltern nicht selbst am Gymnasium waren und die ihren Töchtern oft den Schritt ans Gymnasium nicht zutrauen, weil sie glauben, dass sie als Eltern beim Lernen helfen müssten. Das ist ein Irrtum. Als moderne Schule verfügen wir über eine Vielzahl von Unterstützungsmaßnahmen, welche die Schule selbst stellt. Besonders beliebt sind dabei unsere Lernbüros. Außerdem sind wir eine Schule, die Schülerinnen mit Migrationsgeschichte besonders willkommen heißt. Denn wir kümmern uns. Am Elly steht jedes einzelne Mädchen im Mittelpunkt. Das sieht man, wenn es jedes Jahr heißt: „Elly tanzt“ – Beim Tanzen lernen Mädchen die Scheu vor der Bühne des Lebens abzulegen. Sie geben den Takt an. Der jahrgangsübergreifende Teamgeist, der aus dieser jährlichen Großveranstaltung entsteht, ist in der Weidener Schullandschaft einzigartig.
Selbstbewusstsein entwickeln: in Ruhe und ohne Irritationen
Cornelia Funke, die bekannte Autorin von den “Wilden Hühnern” oder von “Tintenherz” erzählt einmal von ihrer Tochter Anna, die eine Mädchenschule in den USA besuchte. Ihr Motiv: Sie sei es leid gewesen, dass sich nette Mädchen jedes Mal in unselbständige Zicken verwandelten, wenn Jungs in der Nähe waren.
Und zu ihrer eigenen Schulzeit an einer Mädchenschule sagt Cornelia Funke: „An einer Mädchenschule kannst du lernen, dass es k e i n e Grenzen für Frauen gibt. Frauen können alles, a l l e s. Es gab nichts, was wir nicht machten. Wir waren alle sehr selbstbewusst.“ Ein ruhiges Umfeld und eine gute Schulatmosphäre ohne große Irritationen dürfte der Entwicklung vieler Mädchen und jungen Frauen förderlich sein.
Und das ist nur einer der Gründe, warum wir unser Angebot einer Mädchenschule in der Region für wichtig und gut halten. Wir freuen uns, dass es gut angenommen wird.
Unbeschwerterer Umgang mit „MINT“–Themen
Fachleute können Mädchengymnasien viel Positives abgewinnen: Dass Mädchen in Lese– und Sprachkompetenzen traditionell stark sind oder musische Vorlieben wie Tanz und Musik gerne pflegen, ist bekannt. Wenn man sich die Diskussion zu den Vorteilen eines getrennten Unterrichts von Jungen und Mädchen in anderen Fächern ansieht, gibt es noch weitere interessante Ergebnisse. So können sich vor allem in naturwissenschaftlichen Fächern bestimmte Vorzüge ergeben. Oft wird diskutiert, ob Mädchen nicht unbeschwerter mit Mathematik, naturwissenschaftlichen oder technischen Themen und Fächern umgehen, wenn keine Jungen in der Klasse sind. Wir wollen junge weibliche Talente gerade auch für diese sog. „MINT–Fächer“, also Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik begeistern. Es gelingt uns erfreulich oft – und immer öfter.
Kein rollentypischer Stress an der Schule – nirgends
Unbestritten ist, dass sich traditionelle Rollenmuster an einer Mädchenschule tendenziell nicht so stark herausbilden bzw. verfestigen: Am Computer, in Mathematik oder Chemie, im Politik–Labor, im Wahlkurs Naturwissenschaftliches Arbeiten, bei Experimente–Wettbewerben, bei Planspielen oder bei „Jugend forscht“, in der Philosophie–Werkstatt, in Debattierzirkeln oder im Extra–Kurs „Komplexchemie“: Nirgends gibt es rollentypischen Stress an unserer Schule: Auch nicht in der Jugendherberge, nicht in der Klassendynamik oder auf der Abiturfahrt. Und auch bei der Übernahme von Verantwortung ist manches ein bisschen selbstverständlicher organisiert, die üblichen Gender–Zuweisungen spielen naturgemäß eine geringe Rolle.
Ach ja: Die üblichen Vorurteile…
Zicken? Haben wir manchmal. Wie alle anderen Schulen auch. Und Zicken sind bekanntlich nicht nur weiblichen Geschlechts – gerade in d e r Altersphase, „in der Eltern schwierig werden“. Und warum lassen sich eigentlich so viele Menschen ihr Bild von Mädchen und jungen Frauen von inszenierten Samstagabendsendungen einreden – mit höchst fragwürdigen Tendenzen und alten Vorurteilen. Unsere Mädchen freuen sich jedenfalls ohne Getue – oft sogar aufs Lernen – auf jeden Fall aber auf ihr Leben.
Umgang mit Jungs? Die Vermutung, das Verhältnis zu Jungs würde sich an einem Mädchengymnasium nicht altersgemäß entwickeln, ist schon sehr weit hergeholt und eher altertümlich. Die vielen Kontakte außerhalb der Schule über Freizeit und Sport, auf dem Schulweg, über Jugendgruppen, beim Tanzen, am Wochenende oder bei Veranstaltungen der Schulen miteinander ermöglichen genügend Kontakte. Dass dies sehr gut funktioniert, wird uns im Alltag ständig bewiesen…
Und was sagen Expertinnen und Experten?
Das Potential von Mädchenschulen nutzen
Ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördertes mehrjähriges Projekt untersuchte Merkmale, die Mädchenschulen auszeichnen und was sie zur Förderung von Mädchen und ihrer Sozialisation leisten. An mehreren Schulen wurden dazu von 2002 bis 2008 empirische Daten erhoben. Daraus entstanden mehrere Dissertationen, die z. B. in der wissenschaftlichen Reihe „Weibliche Adoleszenz und Schule“ des Verlags Barbara Budrich, Opladen, erscheinen.
„Mädchenschulen sind zwar zu einem großen Teil `alte´ Schulen, die vor Jahrhunderten gegründet wurden und auf eine lange Tradition zurückblicken können, aber längst nicht altmodisch – sie sind zugleich moderne Einrichtungen, deren Potentiale bis dato unseres Erachtens unterschätzt werden.“Prof. Dr. Leonie Herwartz–Emden, Leiterin des Projekts
Aufschlussreich dabei ist der Aspekt, mit welchen Vorurteilen Mädchenschulen leben müssen – wie es scheint überall – und wie sie damit umgehen. Überraschend für die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler: Das Forschungsprojekt sah sich schnell selbst solchen Vorurteilen ausgesetzt.
Hoch interessant bleibt, wie das Selbstverständnis der einzelnen Schule und ihre Selbstdarstellung sich auf Selbstbewusstsein der Schülerinnen, ihre Identifizierung mit der Schule und die Akzeptanz der Schule auswirken. Wir wissen auch hier um unsere Chancen für die Schule und noch mehr für unsere Schülerinnen.
Zum Lesen und Weiterschmökern…
- Leonie Herwartz–Emden (Hrsg.): Neues aus alten Schulen – empirische Studien in Mädchenschulen, Opladen 2007
- Leonie Herwartz–Emden/Verena Schurt/Wiebke Waburg (Hrsg.): Mädchen in der Schule – Empirische Studien zu Heterogenität in monoedukativen und koedukativen Kontexten, Opladen 2010
Die beiden Bände sind – wie auch andere aktuelle Fachliteratur zum Thema – an der Schule ausleihbar. Nehmen Sie ggf. Kontakt mit dem Sekretariat auf!